Chrissie Sch.

Chrissie kam mit 15 Jahren in die Beratung der Mitternachtsmission.

Der erste Kontakt zu ihr fand in einer kalten Dezembernacht statt. Die Mitarbeiterin der MM ging nach einem Termin in einem Bordell durch die Straßen des Dortmunder Nordens. Auf den Stufen einer Haustür saß ein kleines, zartes Mädchen mit strähnigen blonden Haaren und mit von Tränen verschmierter Wimperntusche. Sie trug eine viel zu große schwarze Lederjacke, verschmutzter Jeans und hörte Musik aus einem Walkman.

Die Mitarbeiterin fragte, ob alles in Ordnung sei. Das löste einen gewaltigen Tränenstrom aus und Chrissie erzählte, sie sei von zu Hause fortgelaufen, weil ihre Eltern nicht mit ihrem libanesischen Freund Hussein einverstanden seien und ihr große Schwierigkeiten gemacht hätten.
Die Mitarbeiterin bot an, sie wieder nach Hause zu bringen und mit den Eltern zu reden oder zunächst einen Schlafplatz für die Nacht im „Sleep Inn“ zu besorgen.

Chrissie wollte das absolut nicht. So nahm die Sozialarbeiterin sie mit in die Mitternachtsmission. Chrissie konnte sich waschen, bekam zu Essen und verschwand in den Morgenstunden mit der Visitenkarte der Mitarbeiterin, aber ohne weitere Hilfeangebote anzunehmen.

Drei Wochen später meldete sie sich in der Mitternachtsmission, bat um Essen und eine warme Jacke (die alte schwarze Lederjacke habe Hussein gehört, der sie zurück gefordert hatte) und erzählte, dass sie nun bei einer Freundin wohne. Hussein sei verschwunden und sie mache sich große Sorgen um ihn. Er habe ihr von hohen Spielschulden berichtet und dass die Gläubiger ihn mit dem Tode bedroht hätten, wenn er sie nicht fristgerecht zurück zahle.
Sie sei schon für ihn auf den Strich gegangen, weil sie ihn über alles liebe,- aber hätte nicht genug verdient. Chrissie fürchtete sich nun, dass die Gläubiger ihn gefangen hielten.Wir (die MM) rieten Chrissie zu einer Anzeige bei der Polizei, was sie aber heftig ablehnte. Im weiteren Gespräch stellte sich dann raus, dass Hussein manchmal gedealt hat und bei der Polizei bekannt sei.

Chrissie erzählte, dass sie es ganz schrecklich fände, auf dem Straßenstrich der Prostitution nachzugehen. Die Kunden seien teilweise sehr brutal zu ihr gewesen, besonders seitdem sie krank geworden sei und die Kunden gemerkt hätten, dass Geschlechtsverkehr ihr weh täte. Es hätten dann einige verstärkt darauf bestanden, harte anale und orale Praktiken durchzuführen, die zu immer weiteren Verletzungen geführt haben. Sie habe sich davor nicht schützen können, da sie zur Durchführung der sexuellen Dienstleistungen immer zu abgelegenen Plätzen gefahren sind und sie sich völlig ausgeliefert gefühlt habe.
Hussein sei ihr auch keine Hilfe oder Trost gewesen, weil er aus Angst vor den Gläubigern, die „ihn umbringen wollen“ nur an sich habe denken können und daran, dass er das Geld brauche.

Er habe sich auch eine „alte Schnalle“ angebaggert, die auch für ihn anschaffe, weil sie ja nicht genug verdiene. Chrissie sagte, dass sie das ja noch verstehen könne, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, weil er ja solche Angst habe und sie es „allein nicht schaffe mit dem Geld“. Sie glaubt fest daran, dass Hussein zu ihr zurück kommt und sie nicht mehr anschaffen muss, wenn er das Geld zusammen hat. Dann würden sie gemeinsam Deutschland verlassen und in ein warmes Land ziehen und Kinder haben.
Sie hat ein völlig verklärtes Bild von Hussein, obwohl die Sozialarbeiterin schon merkt, dass da auch Zweifel bei Chrissie aufkommen. Sie scheint die aber nicht zulassen zu können und klammert sich an den Gedanken an einen „liebenden Hussein, der irgendwo gefangen gehalten wird“.

Chrissie klagte über Schmerzen im Unterleib und beim Wasserlassen. Eine Mitarbeiterin der MM machte sofort einen Termin bei einer Gynäkologin aus. Dort stellte sich heraus, dass Chrissie entzündete Verletzungen an den Genitalien und im Analbereich hatte und außerdem an Feigwarzen und Gonorrhöe litt. Auch wurde auch noch eine Blasenentzündung festgestellt.

Die Ärztin veranlasste eine Einweisung ins Krankenhaus.
Das machte es notwendig, Kontakt zu den Eltern aufzunehmen, denn die Kosten mussten über deren Familienversicherung gedeckt werden. Wir haben Chrissie das erklärt und bekamen ihr Einverständnis dafür.

Eine Mitarbeiterin fuhr zu den Eltern.
Die Eltern sind ein sehr freundliches Ehepaar aus der Mittelschicht. Die Mutter ist Lehrerin und der Vater Handelsvertreter. Beide waren sehr froh wieder von ihrer Tochter zu hören, denn Chrissie war bereits seit Monaten von zu Hause verschwunden, hatte aber hin und wieder angerufen, meist nur sehr einsilbig und ohne mitzuteilen, wo sie sich aufhielt.
Beide waren ratlos und sehr besorgt um Chrissie. Die Mutter packte sofort eine Tasche mit den Lieblingsnachthemden und einem Kuscheltier, mit Waschzeug und Süßigkeiten und es war ihr dringender Wunsch mit ins Krankenhaus zu kommen. Die Mitarbeiterin hatte den Eindruck, dass die Eltern ihre Tochter sehr lieben.
Auf dem Weg ins Krankenhaus weinte die Mutter und berichtete, wie schwer die letzte Zeit mit Chrissie war, seitdem sie mit Hussein kennen gelernt hatte.
Die Eltern waren nicht generell gegen einen ausländischen Freund, hatten aber bemerkt, dass Hussein, der um 10 Jahre älter als Chrissie ist, mehr und mehr schädlichen Einfluss auf Chrissie genommen hat. Sie bevorzugte seitdem sexuell aufreizende Kleidung, ließ sich piercen und seinen Namen auf ihren Oberarm tätowieren, färbte ihre Haare blond schwänzte häufig die Realschule und kam zunehmend öfter nachts nicht nach Hause. Bei der kleinsten Kritik der Eltern an ihrer Beziehung zu Hussein wurde sie ausfallend, beschimpfte die Eltern, schmiss mit Gegenständen um sich. Einmal riss sie ihrer Mutter die Perlenkette vom Hals. Weder Mutter noch Vater schimpften auf Chrissie, sondern artikulierten nur ihre Besorgnis, ihre Hilflosigkeit und ihre Verzweiflung.

Der Vater gab zu, dass er seine Tochter geschlagen habe als sie zu seiner Frau sagte: „Du bist nur neidisch, dass Dich alte Fotze kein junger Mann mehr ansieht“. Danach ist Chrissie, die noch nie von ihren Eltern geschlagen wurde, aus dem Haus gestürmt und sei nicht mehr zurück gekommen. Bei den Schilderungen der Eltern wurde deutlich, wie viele schlaflose Nächte sie seitdem verbracht haben und welch furchtbare Vorstellungen vom Verbleib der Tochter sie gequält hatten.

Im Krankenhaus angekommen mussten wir feststellen, dass Chrissie kurzerhand – trotz Fieber und Schmerzen - abgehauen war.
Das führte zum Zusammenbruch der Mutter, die völlig verzweifelt, nicht glauben wollte, dass sie um das so kurz bevorstehende Wiedersehen mit ihrer Tochter „betrogen“ wurde. Die Mitarbeiterin der MM führte noch ein langes Gespräch mit den Eltern. Dabei wurde klar, dass die Eltern sich sehr um eine Versöhnung bemühen und die Tochter mit offenen Armen aufnehmen würden.

Zwei Mitarbeiterinnen der Mitternachtsmission machten sich auf den Weg, um in den nächtlichen Straßen nach Chrissie zu suchen. Sie sagten auf dem Straßenstrich und in einschlägigen Milieukneipen Bescheid, dass Chrissie sich melden solle. Nachts um 2.00 Uhr kam der Anruf auf dem Handy. Ein Wirt rief an. Chrissie saß weinend und mit Fieber in seiner Kneipe und hatte nichts gegen einen neuen Kontakt zur Mitternachtsmission.

Wir holten sie ab und brachten sie sofort wieder in die Klinik.
Chrissie hatte ihren Hussein gefunden, der fröhlich lachend in einer Teestube saß und mit seinen Freunden plauderte. Als Chrissie rein kam und ihn vor Wut und Erleichterung in Gegenwart seiner Freunde anschrie hat er sie geohrfeigt.
Sie war völlig entsetzt darüber und wollte nun ihre Eltern sehen.
Wir benachrichtigten diese noch in der selben Nacht und blieben bei Chrissie, bis sie ankamen.

In der Folgezeit haben die Eltern mehrere Gespräche alleine und gemeinsam mit der Sozialarbeiterin geführt. Chrissie ist zurück in die Schule gegangen.
Hat sich nach zwei Monaten mit Hussein versöhnt und ist wieder fortgelaufen. Wurde wieder geschlagen und rabiat zur Prostitution gezwungen.

Chrissie wurde nach einigen Wochen auf dem Straßenstrich von einem Mann mitgenommen, in einen Wald gefahren. Dort quälten drei seiner Freunde sie, vergewaltigten und urinierten auf sie und ließen sie im Wald zurück.
Von diesem traumatischen Erlebnis hat Chrissie sich nicht erholt.

Hussein hat eine andere Frau geheiratet, weil sie jetzt „so ein abgewracktes Teil sei“ und kommt nur noch zum Abkassieren.

Erneuter Kontakt zur Mitternachtsmission.
Wieder bei den Eltern untergekommen. Seit fünf Monaten zurück in der Schule. Gute Aussichten für einen erfolgreichen Schulabschluss. Ein Ausbildungsplatz bei einer Versicherung wurde durch die MM gefunden.
Chrissie besucht mit ihren Eltern eine Familientherapie.

Auch die Eltern leiden sehr, denn bei der Therapie werden die Erfahrungen und Erlebnisse im Prostitutionsmilieu angesprochen und für die Eltern ist es sehr schwer, dass sie ihre kleine Tochter davor nicht beschützen konnten.
Für Chrissie ist es aufwühlend, weil sie spürt, dass ihre Eltern sie lieben,- aber sie schämt sich sehr zu sagen, was sie alles getan hat und was ihr angetan wurde.
Die Mitternachtsmission erfuhr durch Kontakte im Milieu, dass Hussein in Haft ist und Aussicht auf eine längere Gefängnisstrafe hat.

Kürzlich war Chrissie bei uns und bat um Hilfe für einen Termin bei einem Hautarzt, der die Tätowierung „Hussein“ entfernen wird.

Wir haben jetzt wieder große Hoffnungen.

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